Im Prozess gegen den früheren Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz konnte man lesen, dass uns solche Skandale zukünftig erspart bleiben würden, wenn
Frauen in der Wirtschaft die Hauptrolle hätten.
Verbirgt sich hinter einer solchen Aussage nicht die Ansicht, die Rettung allen Übels liege bei den Frauen, weshalb sich der Mann an ihnen
therapieren müsse?
Tatsächlich gilt der Mann als das problematische Individuum des 21. Jahrhunderts. Männlichkeit ist zur Kurzform für unsere gesellschaftlichen
Missstände geworden. Etwa ab dem fünfzigsten Altersjahr gehört das männliche Geschlecht zu den «Boomern», zu den alten weissen Männern. Es scheint
völlig normal, dass sie mit Statements wie «Ok, Boomer!» abqualifiziert, bagatellisiert und ironisiert werden.
Dieser Tunnelblick verunmöglicht, sowohl die grosse Vielfalt der Männer als auch ihre zum Teil beeindruckenden individuellen Entwicklungen zu
sehen.
Es ist üblich geworden, dass Frauen über Männer schreiben.
Damit bringen sie zum Ausdruck, wo überall es mit der männlichen Emanzipation hapert. Noch nie konnten wir so viele Publikationen,
wissenschaftliche Fachartikel und Essays zum weissen Mann in der Krise lesen. Offenbar ist der Gleichstellungs- und Emanzipationsprozess, von
wenigen Ausnahmen abgesehen, eine Sache der Frauen geblieben. Männer sollen sich diesem Prozess anschliessen oder ihn zumindest gutheissen – und
nicht unterwandern.
Daraus resultiert eine wirkungsvolle Dialoglosigkeit. Sie provoziert eine Vielzahl von Gegenreaktionen, wobei zwei polare Gruppen besonders
hervorstechen. Zum einen sind es diejenigen Männer, die sich als einfühlsame Frauenversteher definieren. Sie sind lieb, melancholisch, sanftmütig
und sehr mit sich selbst beschäftigt. Gleichzeitig fühlen sie sich zwischen Geschlechtsidentität und Rollenvielfalt hin- und hergerissen.
Andererseits gibt es die rückwärtsgewandten Antifeministen, die sich als Opfer der weiblichen Übermacht verstehen. Sie artikulieren ihre Wut mit
massiver Frontstellung und radikalisieren sich in frauenfeindlichen Gruppierungen.
Um nicht falsch verstanden zu werden: Es ist ein grosser Fortschritt von Feminismus und Emanzipation, dass das Bild der Frau, ihre Position und ihr
Selbstverständnis gründlich renoviert worden sind. Allerdings trifft dies für das Männerbild nicht zu. Eine solche Selektivität hat für Frauen
Nachteile mit sich gebracht, weil sie trotz Emanzipation immer noch vorwiegend mit weiblichen Eigenschaften – Fürsorge, Hilfsbereitschaft oder
Empathie – etikettiert werden. Doch aus der Geschlechterforschung wissen wir zur Genüge, dass es nicht in erster Linie die Hormone sind, welche das
Verhalten bestimmen, sondern soziale Zuschreibungen und Erwartungen.
Können Frauen nicht auch verantwortungslos oder egoistisch sein wie Männer und häusliche Gewalt ausüben – allerdings auf eine andere und oft
verdeckte Art und Weise? Bisher fehlen differenzierte und objektive Untersuchungen weitgehend.
Neben der Forderung, das Männerbild neu zu denken, sollten wir uns fragen, was die gesellschaftliche Abwertung des Männlichen bewirken kann – auch
für die Erziehung von Knaben. Differenzierte Rollenmodelle fehlen weitgehend, und souveräne, auf Gleich-berechtigung fokussierte öffentliche
Positionen von Männern sind rar. Deshalb haben es Knaben schwerer als je zuvor, zu einer Ich-Identität zu finden. Das dürfte ein gewichtiger Grund
dafür sein, warum männliche Heranwachsende zunehmend von Orientierungslosigkeit überrannt werden – und zwar nicht nur solche, die als
Bildungsverlierer bezeichnet werden, sondern auch gut Gebildete.
Unsere Gesellschaft sollte die Folgen der abwertenden Sicht auf das Männliche reflektieren, damit die männliche Courage auf dem Weg zu einer neuen
Rollenidentität überhaupt aufleben kann. Ein aufgeklärter Feminismus würde diese Courage dringend brauchen.
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